Montag, 20. August 2012

"Eine Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung" - Und Schule?


"Eine Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung, sagte Hippler." - Und eine Schule?

Zitat: SPIEGEL ONLINE

(Horst Hippler, Physiker, 65 Jahre alt, wurde im April 2012 zum Sprecher der Hochschul-Rektoren-Konferenz gewählt.) 
________________________________


"Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. "


Drei Vorlesungen, 5. Auflage 2012
________________________________

Schon lange tobt die Diskussion Kompetenzraster versus Bildung&Wissen. Oder auch: Müssen die SchülerInnen nur Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten erwerben und/oder auch Inhalte? Gibt es einen Wissenskanon und/oder nur einen Kompetenzkanon? 


ist ein Buch von Dietrich Schwanitz aus dem Jahr 1999. Es bietet einen Streifzug durch Geschichte, Literatur, Philosophie, Kunst und Musik und stellt dar, was nach der Meinung des Autors zum Bildungskanon in Deutschland gehören sollte. Des Weiteren enthält das Buch Anregungen, wie man im Bereich der Bildung selbst vorankommen kann.
 
Die Gesellschaft für Bildung und Wissen kämpft gegen Kompetenzraster.  Kurz gesagt: Die SchülerInnen sollen nach Ansicht der Gesellschaft nicht nur Kompetenzen erlernen und in den Bildungsplänen sollen nicht nur Kompetenzen formuliert sein, sondern es muss auch um Inhalte gehen. Man soll, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur ein Buch "lesen können" (Kompetenz: "Ich kann XYZ"), es kommt auch darauf an, was die SchülerInnen lesen sollen, warum gerade das usw.

 

________________________________

In seiner dritten Vorlesung im o.g. Buch führt der Philosoph Peter Bieri genauer aus, was er unter "Bildung" versteht und wie man Bildung erwirbt:

  • Bildung besteht darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzu­treten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden.
  • Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur.
  • Sich bilden - das ist wie aufwachen. 
  • Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.- Doch es kann viel mehr sein ...
Bildung ist auch für Bieri mehr als Ausbildung.

________________________________

(Was Bieri exemplarisch über die Aneignung der Sprache sagt, lässt sich übertragen auf andere Bildungs-Inhalte, so kann man in dem folgenden Text das Wort "Sprache" auch probeweise durch "Bildungs-Inhalte" ersetzen ): 

» Bildung ist dieser Prozess der Aneig­nung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft. 
Man kann an diesem Prozess verschiedene Stufen unterscheiden, und die folgenden Überlegungen sind ein Nachdenken über diese Stufen.

Der Schlüssel zu allem: Sprache. Die grundlegende Fähigkeit, die uns zu Kulturwesen macht, ist die Sprache.

Die erste Stufe der Aneignung 
ist das Erler­nen der Muttersprache durch Nachplappern, ein Prozess der Gewöhnung und Konditionierung, man könnte auch sagen: des Abrichtens. Ich wachse in die Sprache hinein, indem ich durch Belohnung und Korrektur zu einem unauffälligen Benutzer ihrer Wörter werde. Ich lerne die Regeln durch blindes Befolgen. Am Ende ist meine sprachliche Identität diejenige eines Sprechers, der ohne Nachzudenken sein Können abruft.

Das ändert sich auf einer zweiten Stufe der Aneig­nung
Hier geht es um eine ausdrückliche Beschäftigung mit dem, was vorher nur als blinde Gewohnheit, als blindes Können da war: Ich lerne die Grammatik mei­ner Sprache kennen und erwerbe eine bewusste Kenntnis ihrer Regeln. Dazu kommen eine Erweiterung des Wort­schatzes, die Entdeckung von Synonymen und das Be­sprechen von Angemessenheit und Unangemessenheit der Worte in den vielfältigen Kontexten des Lebens. Jetzt bin ich jemand, der nicht nur in der Sprache, sondern auch über sie sprechen kann.

Die dritte Stufe der An­eignung. 
Dazu gehört ein Verständnis davon, wie sich meine Sprache entwickelt hat. Bildung ist immer auch historisches Bewusstsein. Ich möchte wissen, wie eine Zeitung, ein Manifest, eine Werbung oder eine Erzäh­lung in vergangenen Zeiten geklungen haben und was dazu geführt hat, dass sie heute anders klingen. 

Diese Art von Verstehen vertieft sich, wenn ich be­ginne, meine Sprache im Vergleich mit anderen Spra­chen zu betrachten - auch ganz fremden Sprachen, in denen es weder Konjugation noch Deklination gibt, wo die Zeit ganz anders dargestellt wird und die Bedeutung mit der Tonlage variiert. Das ist die vierte Stufe der An­eignung.

________________________________

Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.
Doch es kann viel mehr sein: 

Ich kann an der Fremdheit der Sprache auch die Fremdheit eines anderen Geistes ken­nenlernen: sehen und verstehen lernen, dass es auch andere Kategorien als die meinen gibt, andere Beschrei­bungen von Verhalten und Institutionen, andere Arten, das eigene und fremde Erleben zur Sprache zu bringen. Und um noch etwas Wichtiges geht es: Ich lerne andere Melodien des Lebens kennen. ...
Andere Kategorien des Denkens und andere Melo­dien des Lebens kennenlernen - das bringt eine Einsicht mit sich, die entscheidend für Bildung im gewichtigen Sinne des Wortes ist: Meine sprachliche und gedankliche Identität, in die ich mit dem Erlernen der Mutterspra­che hineingewachsen bin, besitzt keine Notwendigkeit; sie ist historisch und geographisch zufällig und hätte auch anders sein können. Kulturelle Identität ist etwas Kontingentes [etwas Zufälliges] , zu dem es immer auch Alternativen gibt. Bildung ist die Einsicht in diese Kontingenz [in diese Zufälligkeit]. Sie bewahrt vor Überheblichkeit, Dogmatismus und dem trotzigen Aufstampfen angesichts des Fremden. Hier liegt der Ur­sprung von echter Toleranz im Unterschied zu flüchti­gen, opportunistischen Lippenbekenntnissen.

________________________________

Eine letzte Stute der Aneignung 
besteht darin, sich in Anerkennung der Kontingenz [der Zufälligkeit]  und im Wissen um sprachliche Alternativen bewusst für eine Sprache zu ent­scheiden und sich mit ihr zu identifizieren. ... Es geht um den höchsten Grad an sprachlicher [und jeglicher anderen] Bildung: die Entwicklung einer eigenen Stimme im Rahmen der gewählten Sprache.
 ________________________________

Bildung besteht dann darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzu­treten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden. Es geschieht, was für Bildung typisch ist: Vertrautes wird verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist, erneut zu etwas Eigenem, Vertrautem zu machen. Platon führt uns diesen Prozess in seinen Dialogen stets von neuem vor Augen. 
Wissen - was ist das eigentlich?, fragt So­krates. Was unterscheidet es von bloßer Meinung? Und Wahrheit: Was können wir darunter verstehen? In wel­chem Sinn macht die Welt unsere Meinungen wahr oder falsch? Und warum überhaupt ist Wahrheit wichtig?
... Wir haben gelernt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verläßlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Wie verläßlich sind die Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über sie hinausgehen? Was sind gültige Schlüsse und was Fehlschlüsse? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophiste­rei? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Es ist der logische Raum solcher Fra­gen, der unser Verständnis von Vernunft definiert, und ein solches Verständnis ist ein zentrales Element in der kulturellen Identität einer Gemeinschaft.
Wir sind in diesem schwierigen Prozess der Bildung, der ein Leben lang dauert, nicht allein. Eine Kultur ist auch ein Raum von Erzählungen, Dramen, Mythen und Mär­chen, von Metaphern, Witzen und literarischen Topoi, von Filmszenen, Bildern und Statuen, von photogra­phischen Ikonen, Opernarien und Straßenliedern. Um herauszufinden, wer wir sind und was uns wichtig ist, können wir uns in den Elementen des kulturellen Raums spiegeln, wir können uns mit dem, was es darin gibt, identifizieren oder uns dagegen abgrenzen.
________________________________
 
Auf die Erwähnung dieser Dinge haben wir schon lange gewartet, werden Sie vielleicht denken - warum kommt das erst jetzt, warum war davon nicht von An­fang an die Rede? 

Die Antwort lautet: Weil es mir wichtig ist, zwischen bloß gekannter Kultur auf der einen Seite und einer gelebten kulturellen Identität auf der anderen zu unterscheiden. Die beiden Dinge werden oft genug verwechselt. 
Man kann einen kulturellen Raum kennen, sich darin sogar sehr genau auskennen, ohne dass das Bekannte die eigene Identität formt und bestimmt. Ich kann die Dramen, Romane, Filme und Lieder eines Lan­des oder einer Zeit sehr genau kennen und kann viele erhellende Dinge darüber sagen - und doch kann es sein, dass sie meiner Art zu leben äußerlich bleiben.
Sie sind dann Inhalte meines Wissens und meiner Gelehrsam­keit, aber damit noch nicht Bestandteile meiner Bildung.
Dafür genügt auch nicht, dass ich in einer Situation die passenden Dinge aus dem kulturellen Repertoire zitieren und damit zeigen kann, dass ich sie auch im Sinne des situativen Verstehens anzuwenden verstehe.
Und nach dem hier entwickelten Verständnis von Bildung genügt es nicht einmal, dass ich mit den Texten, den Bildern und der Musik ganz für mich allein lebe, so dass sich der Ver­dacht des Demonstrativen oder Angeberischen erübrigt.
Die Topoi einer Kultur tragen erst dann zu echter Bil­dung bei, wenn sie in der Aneignung all der Dinge, von denen ich früher gesprochen habe, eine bestimmende Rolle spielen.

Erst wenn meine eigene Sprache durch das Lesen von Literatur reicher, differenzierter und selbstän­diger wird, ist etwas im Sinne der Bildung mit mir ge­schehen. Erst wenn meine Beschäftigung mit Traktaten über Vernunft sich in der Organisation des eigenen Den­kens und Tuns niederschlägt, war die Lektüre wirklich eine Bildungserfahrung. Erst wenn die Beschäftigung mit dem Blick der Anderen auf der Bühne und im Film dazu führt, dass meine eigenen Empfindungen von Pri­vatheit, Intimität und Scham klarere Konturen erhalten, habe ich als Zuschauer etwas für meine Bildung getan. 

Ich kann in einem kulturellen Raum viel über Selbstbe­stimmung, Würde und moralische Erfahrung hören und lesen; wenn das nicht dazu führt, dass sich das Verständ­nis und die Erfahrung dieser Dinge auch in mir -selbst spürbar verändern, bin ich trotz reicher Kenntnisse noch nicht bei einem Bildungsprozess angekommen. Und ähn­lich ist es mit den religiösen Elementen einer Kultur: Sie zu kennen, reicht nicht; es geht darum, sich an ihnen zu reiben und im Sinne einer inneren Stellungnahme auch hier eine eigene Stimme zu entwickeln.

Sich bilden - das ist wie aufwachen. 
Das kulturelle Gewebe, von dem ich zu Beginn sprach, stößt uns am Anfang des Lebens nur zu, es wirkt auf uns ein und prägt uns, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Wir bewegen uns darin wie Schlafwandler: unauffällig und zielsicher, aber ohne gedankliche und emotionale Plastizität, ohne reflektierende Distanz und ohne Sinn für Alternativen. 
Wenn wir dann die Stufen oder Phasen der Aneignung durchlaufen, die ich beschrieben habe, werden wir immer wacher: Wir lernen, über die Gram­matik der zunächst blinden Kultur zu sprechen, sie in größeren Zusammenhängen zu verstehen und als eine unter mehreren Möglichkeiten zu betrachten. 
Je größer Transparenz und Übersicht werden, desto größer wird die innere Freiheit, aus dem Schatten blinder Prägungen herauszutreten und sich zu fragen, wer man sein möchte. Dieser Prozess der Bildung und des Erwachens ist nie ab­geschlossen.... «
________________________________

Frage:
  • Was tragen diese Gedanken zur Lösung des Streits um Kompetenzraster, Bildung und Wissen bei? 
  • Welche Konsequenzen ergäben oder ergeben sich daraus, für die aktuelle Schulreform bei uns in Baden-Württemberg und anderswo.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen