Montag, 20. August 2012

"Eine Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung" - Und Schule?


"Eine Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung, sagte Hippler." - Und eine Schule?

Zitat: SPIEGEL ONLINE

(Horst Hippler, Physiker, 65 Jahre alt, wurde im April 2012 zum Sprecher der Hochschul-Rektoren-Konferenz gewählt.) 
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"Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. "


Drei Vorlesungen, 5. Auflage 2012
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Schon lange tobt die Diskussion Kompetenzraster versus Bildung&Wissen. Oder auch: Müssen die SchülerInnen nur Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten erwerben und/oder auch Inhalte? Gibt es einen Wissenskanon und/oder nur einen Kompetenzkanon? 


ist ein Buch von Dietrich Schwanitz aus dem Jahr 1999. Es bietet einen Streifzug durch Geschichte, Literatur, Philosophie, Kunst und Musik und stellt dar, was nach der Meinung des Autors zum Bildungskanon in Deutschland gehören sollte. Des Weiteren enthält das Buch Anregungen, wie man im Bereich der Bildung selbst vorankommen kann.
 
Die Gesellschaft für Bildung und Wissen kämpft gegen Kompetenzraster.  Kurz gesagt: Die SchülerInnen sollen nach Ansicht der Gesellschaft nicht nur Kompetenzen erlernen und in den Bildungsplänen sollen nicht nur Kompetenzen formuliert sein, sondern es muss auch um Inhalte gehen. Man soll, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur ein Buch "lesen können" (Kompetenz: "Ich kann XYZ"), es kommt auch darauf an, was die SchülerInnen lesen sollen, warum gerade das usw.

 

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In seiner dritten Vorlesung im o.g. Buch führt der Philosoph Peter Bieri genauer aus, was er unter "Bildung" versteht und wie man Bildung erwirbt:

  • Bildung besteht darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzu­treten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden.
  • Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur.
  • Sich bilden - das ist wie aufwachen. 
  • Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.- Doch es kann viel mehr sein ...
Bildung ist auch für Bieri mehr als Ausbildung.

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(Was Bieri exemplarisch über die Aneignung der Sprache sagt, lässt sich übertragen auf andere Bildungs-Inhalte, so kann man in dem folgenden Text das Wort "Sprache" auch probeweise durch "Bildungs-Inhalte" ersetzen ): 

» Bildung ist dieser Prozess der Aneig­nung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft. 
Man kann an diesem Prozess verschiedene Stufen unterscheiden, und die folgenden Überlegungen sind ein Nachdenken über diese Stufen.

Der Schlüssel zu allem: Sprache. Die grundlegende Fähigkeit, die uns zu Kulturwesen macht, ist die Sprache.

Die erste Stufe der Aneignung 
ist das Erler­nen der Muttersprache durch Nachplappern, ein Prozess der Gewöhnung und Konditionierung, man könnte auch sagen: des Abrichtens. Ich wachse in die Sprache hinein, indem ich durch Belohnung und Korrektur zu einem unauffälligen Benutzer ihrer Wörter werde. Ich lerne die Regeln durch blindes Befolgen. Am Ende ist meine sprachliche Identität diejenige eines Sprechers, der ohne Nachzudenken sein Können abruft.

Das ändert sich auf einer zweiten Stufe der Aneig­nung
Hier geht es um eine ausdrückliche Beschäftigung mit dem, was vorher nur als blinde Gewohnheit, als blindes Können da war: Ich lerne die Grammatik mei­ner Sprache kennen und erwerbe eine bewusste Kenntnis ihrer Regeln. Dazu kommen eine Erweiterung des Wort­schatzes, die Entdeckung von Synonymen und das Be­sprechen von Angemessenheit und Unangemessenheit der Worte in den vielfältigen Kontexten des Lebens. Jetzt bin ich jemand, der nicht nur in der Sprache, sondern auch über sie sprechen kann.

Die dritte Stufe der An­eignung. 
Dazu gehört ein Verständnis davon, wie sich meine Sprache entwickelt hat. Bildung ist immer auch historisches Bewusstsein. Ich möchte wissen, wie eine Zeitung, ein Manifest, eine Werbung oder eine Erzäh­lung in vergangenen Zeiten geklungen haben und was dazu geführt hat, dass sie heute anders klingen. 

Diese Art von Verstehen vertieft sich, wenn ich be­ginne, meine Sprache im Vergleich mit anderen Spra­chen zu betrachten - auch ganz fremden Sprachen, in denen es weder Konjugation noch Deklination gibt, wo die Zeit ganz anders dargestellt wird und die Bedeutung mit der Tonlage variiert. Das ist die vierte Stufe der An­eignung.

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Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.
Doch es kann viel mehr sein: 

Ich kann an der Fremdheit der Sprache auch die Fremdheit eines anderen Geistes ken­nenlernen: sehen und verstehen lernen, dass es auch andere Kategorien als die meinen gibt, andere Beschrei­bungen von Verhalten und Institutionen, andere Arten, das eigene und fremde Erleben zur Sprache zu bringen. Und um noch etwas Wichtiges geht es: Ich lerne andere Melodien des Lebens kennen. ...
Andere Kategorien des Denkens und andere Melo­dien des Lebens kennenlernen - das bringt eine Einsicht mit sich, die entscheidend für Bildung im gewichtigen Sinne des Wortes ist: Meine sprachliche und gedankliche Identität, in die ich mit dem Erlernen der Mutterspra­che hineingewachsen bin, besitzt keine Notwendigkeit; sie ist historisch und geographisch zufällig und hätte auch anders sein können. Kulturelle Identität ist etwas Kontingentes [etwas Zufälliges] , zu dem es immer auch Alternativen gibt. Bildung ist die Einsicht in diese Kontingenz [in diese Zufälligkeit]. Sie bewahrt vor Überheblichkeit, Dogmatismus und dem trotzigen Aufstampfen angesichts des Fremden. Hier liegt der Ur­sprung von echter Toleranz im Unterschied zu flüchti­gen, opportunistischen Lippenbekenntnissen.

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Eine letzte Stute der Aneignung 
besteht darin, sich in Anerkennung der Kontingenz [der Zufälligkeit]  und im Wissen um sprachliche Alternativen bewusst für eine Sprache zu ent­scheiden und sich mit ihr zu identifizieren. ... Es geht um den höchsten Grad an sprachlicher [und jeglicher anderen] Bildung: die Entwicklung einer eigenen Stimme im Rahmen der gewählten Sprache.
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Bildung besteht dann darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzu­treten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden. Es geschieht, was für Bildung typisch ist: Vertrautes wird verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist, erneut zu etwas Eigenem, Vertrautem zu machen. Platon führt uns diesen Prozess in seinen Dialogen stets von neuem vor Augen. 
Wissen - was ist das eigentlich?, fragt So­krates. Was unterscheidet es von bloßer Meinung? Und Wahrheit: Was können wir darunter verstehen? In wel­chem Sinn macht die Welt unsere Meinungen wahr oder falsch? Und warum überhaupt ist Wahrheit wichtig?
... Wir haben gelernt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verläßlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Wie verläßlich sind die Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über sie hinausgehen? Was sind gültige Schlüsse und was Fehlschlüsse? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophiste­rei? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Es ist der logische Raum solcher Fra­gen, der unser Verständnis von Vernunft definiert, und ein solches Verständnis ist ein zentrales Element in der kulturellen Identität einer Gemeinschaft.
Wir sind in diesem schwierigen Prozess der Bildung, der ein Leben lang dauert, nicht allein. Eine Kultur ist auch ein Raum von Erzählungen, Dramen, Mythen und Mär­chen, von Metaphern, Witzen und literarischen Topoi, von Filmszenen, Bildern und Statuen, von photogra­phischen Ikonen, Opernarien und Straßenliedern. Um herauszufinden, wer wir sind und was uns wichtig ist, können wir uns in den Elementen des kulturellen Raums spiegeln, wir können uns mit dem, was es darin gibt, identifizieren oder uns dagegen abgrenzen.
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Auf die Erwähnung dieser Dinge haben wir schon lange gewartet, werden Sie vielleicht denken - warum kommt das erst jetzt, warum war davon nicht von An­fang an die Rede? 

Die Antwort lautet: Weil es mir wichtig ist, zwischen bloß gekannter Kultur auf der einen Seite und einer gelebten kulturellen Identität auf der anderen zu unterscheiden. Die beiden Dinge werden oft genug verwechselt. 
Man kann einen kulturellen Raum kennen, sich darin sogar sehr genau auskennen, ohne dass das Bekannte die eigene Identität formt und bestimmt. Ich kann die Dramen, Romane, Filme und Lieder eines Lan­des oder einer Zeit sehr genau kennen und kann viele erhellende Dinge darüber sagen - und doch kann es sein, dass sie meiner Art zu leben äußerlich bleiben.
Sie sind dann Inhalte meines Wissens und meiner Gelehrsam­keit, aber damit noch nicht Bestandteile meiner Bildung.
Dafür genügt auch nicht, dass ich in einer Situation die passenden Dinge aus dem kulturellen Repertoire zitieren und damit zeigen kann, dass ich sie auch im Sinne des situativen Verstehens anzuwenden verstehe.
Und nach dem hier entwickelten Verständnis von Bildung genügt es nicht einmal, dass ich mit den Texten, den Bildern und der Musik ganz für mich allein lebe, so dass sich der Ver­dacht des Demonstrativen oder Angeberischen erübrigt.
Die Topoi einer Kultur tragen erst dann zu echter Bil­dung bei, wenn sie in der Aneignung all der Dinge, von denen ich früher gesprochen habe, eine bestimmende Rolle spielen.

Erst wenn meine eigene Sprache durch das Lesen von Literatur reicher, differenzierter und selbstän­diger wird, ist etwas im Sinne der Bildung mit mir ge­schehen. Erst wenn meine Beschäftigung mit Traktaten über Vernunft sich in der Organisation des eigenen Den­kens und Tuns niederschlägt, war die Lektüre wirklich eine Bildungserfahrung. Erst wenn die Beschäftigung mit dem Blick der Anderen auf der Bühne und im Film dazu führt, dass meine eigenen Empfindungen von Pri­vatheit, Intimität und Scham klarere Konturen erhalten, habe ich als Zuschauer etwas für meine Bildung getan. 

Ich kann in einem kulturellen Raum viel über Selbstbe­stimmung, Würde und moralische Erfahrung hören und lesen; wenn das nicht dazu führt, dass sich das Verständ­nis und die Erfahrung dieser Dinge auch in mir -selbst spürbar verändern, bin ich trotz reicher Kenntnisse noch nicht bei einem Bildungsprozess angekommen. Und ähn­lich ist es mit den religiösen Elementen einer Kultur: Sie zu kennen, reicht nicht; es geht darum, sich an ihnen zu reiben und im Sinne einer inneren Stellungnahme auch hier eine eigene Stimme zu entwickeln.

Sich bilden - das ist wie aufwachen. 
Das kulturelle Gewebe, von dem ich zu Beginn sprach, stößt uns am Anfang des Lebens nur zu, es wirkt auf uns ein und prägt uns, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Wir bewegen uns darin wie Schlafwandler: unauffällig und zielsicher, aber ohne gedankliche und emotionale Plastizität, ohne reflektierende Distanz und ohne Sinn für Alternativen. 
Wenn wir dann die Stufen oder Phasen der Aneignung durchlaufen, die ich beschrieben habe, werden wir immer wacher: Wir lernen, über die Gram­matik der zunächst blinden Kultur zu sprechen, sie in größeren Zusammenhängen zu verstehen und als eine unter mehreren Möglichkeiten zu betrachten. 
Je größer Transparenz und Übersicht werden, desto größer wird die innere Freiheit, aus dem Schatten blinder Prägungen herauszutreten und sich zu fragen, wer man sein möchte. Dieser Prozess der Bildung und des Erwachens ist nie ab­geschlossen.... «
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Frage:
  • Was tragen diese Gedanken zur Lösung des Streits um Kompetenzraster, Bildung und Wissen bei? 
  • Welche Konsequenzen ergäben oder ergeben sich daraus, für die aktuelle Schulreform bei uns in Baden-Württemberg und anderswo.



Sonntag, 12. August 2012

NLP: Von Zauberei und Beinahe-Wundern


Vor vielen Jahren habe ich mir ein Buch von Michael Grinder gekauft: 


NLP für Lehrer ist vielleicht das NLP-Ur-Standardwerk für Schule&Unterricht. Bereits Ende der 70er Jahre übertrug Michael Grinder das von seinem Bruder John Grinder (und Richard Bandler) begründete NLP auf seine Tätigkeit als Lehrer. Die englische Originalfassung erschien 1989.  
  
Eine Rezension zu dem Buch von Amazon:
"5.0 von 5 Sternen -
Super Tipps und Tricks
, 9. Oktober 2011.

Wer kennt das nicht, die Schüler spielen verrückt und tanzen einem auf der Nase rum. Alle Verwarnungen und Strafandrohungen bleiben meist folgenlos und irgendwie sind die Schüler nicht einsichtig. Das Buch gibt euch die Chance, die Schüler so zu beeinflussen, dass sie sich diszipliniert und gutwillig benehmen, ohne dass sie diesen Einfluss als Drohung (Bleib sitzen, mach die Hausaufgaben, sei ruhig) interpretieren. Dadurch läuft der Unterricht reibungloser ab und die Schüler fühlen sich ernst genommen. Das Buch ist eine gute Praxisanleitung mit schnell umsetzbaren Tipps und Tricks. Meinerseits sehr empfehlenswert.
Ich selber habe in der Schule auch ein wenig mit den "Tipps und Tricks" experimentiert: Es hat nicht wirklich "funktioniert", so dass das Buch im Bücherregal verstaubte und anlässlich eines Umzuges schließlich im Altpapier endete...
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Aus beruflichen Gründen las  ich jüngst noch einmal ein aktuelles NLP-Buch, das genau 20 Jahre nach dem o.g. Buch erschienen ist, mit den "besten Techniken für die optimale Kommunikation".  - NLP spricht viel von Techniken & Methoden. Doch Methoden und Techniken allein reichen nicht aus.

Der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg, Jg. 1934,  Mitarbeiter von Carl Rogers, sagte in einem Interview einmal sinngemäß:



Ich zitiere oft ein buddhistisches Gleichnis, um die Leute daran zu erinnern, dass unsere Methode, die Gewaltfreie Kommunikation, ein Instrument ist, um an einen gewünschten Ort zu kommen. Aber sie ist nicht der Ort. Das Gleichnis beschreibt schön, worum es geht:

"Wenn Du einen Berg hinauf wandern willst, um dort oben die Wahrheit zu finden oder Gott, oder was auch immer du suchst, und ein Fluss trennt dich von diesem Berg, dann kann ein Boot sehr hilfreich sein, um diesen Fluss zu überqueren. -
Aber derjenige ist ein Narr, der das Boot auf seinem Rücken den Berg hinauf trägt."

Um einen Ort zu erreichen, ist es wichtig, sich nicht von einer Methode abhängig zu machen, sondern die Methode zu nutzen, um mit der inneren Kraft in Verbindung zu kommen.

Heute verstehe ich besser, warum die Methoden des NLP-Buches damals nicht "funktioniert" haben bzw. im pädagogischen Bereich auch nie wirklich zuhause sein werden und können: NLP fehlt von seinem Selbstverständnis her eine innere Kraft - und kann daher auch mit keiner inneren Kraft in Verbindung bleiben.

Mehr dazu im Folgenden. 

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NLP gilt vielerorts als "Autoverkäufer-Psychologie" (Wie verkaufe ich jemandem ein Auto an, der eigentlich kein`s braucht?" Oder:  "Wie kann ich mein Ziel, jeden Tag 3 Autos zu verkaufen, erfolgreich erreichen?" - 

Wenn ich "NLP" höre, fällt mir immer "Scientology" ein.Und das ist auch kein Zufall, denn der Linguist Alfred Korzybski (gest. 1950 in Connecticut USA) beeinflusste nicht nur NLP, sondern auch den Scientology-Gründer Hubbard.
Und eben weil der "Werkzeugkasten" des neurolinguistischen Programmierens dadurch eine ganze Reihe von Begriffen enthält (wie "Chunken", "Kalibrieren", "Swish", "Phobia Cure" oder "Reframing") die stark an den Scientology-Jargon erinnern, haben einige NLP-Schulen schon in den 1990er-Jahren ihre Strategie geändert: Damit Unternehmen auch weiterhin ihre Mitarbeiter zu NLP-Kursen anmelden, so ein NLP-Lehrer, bekommen deren Seminare mittlerweile etwas unverfänglichere Titel. Auch die Abkürzung NLP taucht dann in den Seminar-Ankündigungen häufig gar nicht mehr auf.
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Zuletzt machte NLP Anfang 2012 in der Presse Schlagzeilen:
"Um die Organspenderate in Deutschland zu steigern, unterstützt der Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) offenbar seit Jahren manipulative Methoden der Gesprächsführung im Umgang mit Angehörigen von Hirntoten. Dazu finanziert die DSO ... seit etwa Ende 2006 für ihre Mitarbeiter sowie für Krankenhauspersonal Kommunikationsseminare nach der umstrittenen Methode des Neurolinguistischen Programmierens (NLP).

NLP zielt auf erfolgsorientierte Kommunikation und wird gern in der Verkaufsförderung eingesetzt. Als ungeeignet, weil pietätlos gilt NLP dagegen für Gespräche mit trauernden, überforderten Menschen, bei deren Angehörigen der Hirntod diagnostiziert wurde und die nun binnen Stunden entscheiden sollen, ob eine Organspende im Sinne des Verstorbenen wäre. Dennoch fördern die Vorstände der DSO, Günter Kirste und Thomas Beck, NLP-Seminare ... - aus dem DSO-Budget. [...]

Alexander Kiss, Professor für Psychosomatik am Universitätsspital Basel, und Fritz Muthny, Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, erklärten, bereits 2006 und 2008 in Briefen dem DSO-Vorstand nahegelegt zu haben, sich im Interesse des Ansehens der Organspende ... von NLP zu distanzieren." [...]
Quelle 

Und wikipedia schreibt:
"Das Theoriegebäude wird in der akademischen Psychologie abgelehnt. NLP gilt als unwissenschaftlich, da sich einige Konzepte der NLP nicht nachweisen lassen und andere in der Wirksamkeit empirisch widerlegt sind. NLP steht außerdem im Verdacht eine Pseudowissenschaft zu sein."
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Auch wikipedia kann sich irren. 

Also mache ich mich erneut  auf zu den Quellen und lese noch einmal eine NLP-Einführung aus dem Jahre 2009, diesmal mit deutschen Autoren, nachdem ich ein Buch der (amerikanischen) NLP-Begründer Richard Bandler und John Grinder erst jüngst entsorgt hatte. Es beginnt so:

"Achtung. Erwarten Sie nicht zu wenig! ... Machen Sie also Ihre Wünsche groß - dann werden Sie auch Großes erreichen. NLP ist eine äußerst erfolgreiche Methode, um tatsächliche und dauerhafte persönliche Veränderungen in erstaunlich kurzer Zeit zu erreichen. NLP ist eine »Erfolgstechnologie«. ... Tatsächlich grenzen die Möglichkeiten des NLP an Zauberei. Die Magie liegt jedoch nicht im NLP, sondern im menschlichen Geist. ... Manchmal erscheinen die schnellen Veränderungen wie ein »Wunder« - Im Gegensatz zu den Behauptungen mancher NLP-Vertreter ist NLP kein Wundermittel [wer hätte das gedacht? der Blogger], sondern "nur" eine sehr effektive Methode."
Stolz ist NLP darauf, 
dass "dem NLP keine Theorie zugrunde liegt. ... 
In NLP geht es nur um eines: Funktioniert es?" ... Sind die Annahmen "nützlich und brauchbar?" ... "Eine »Technologie« ist NLP insofern, als es nicht auf philosophische, religiöse oder spirituelle Vorstellungen zurückgreift...". 
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NLP schmückt sich mit großen Namen:
  • Milton Erickson, Begründer der Hynotherapie, gest. 1980 in Arizona,
  • Fritz Perls, Begründer der Gestalttherapie, gest. 1970 in Chikago,
  • Virginia Satir, "Mutter der Familientherapie", gest. 1988 in Kalifornien.
Weshalb hatten diese 3 Therapeuten so großen Erfolg? 
Bandler und Grinder wollten den herausragenden Erfolg der 3 Meistertherapeuten nachvollziehbar machen und anderen vermitteln. "Die [ 3 Meister-] Therapeuten selbst waren sich selber dessen gar nicht bewusst", warum sie so erfolgreich waren - "sie gingen intuitiv vor." - Doch Anglist Grinder und Student Brander haben ihre Methoden entdeckt, aufgedeckt und "die konkreten Erfolgsstrategien in einem klaren, nachvollziehbaren und erlernbaren System" zusammengefasst, das sie NLP nannten.
Das Ergebnis: Eine Ratgeber-Literatur, wie sie besonders in den USA zuhause ist und uns in Deutschland irgendwie immer "zu typisch amerikanisch-oberflächlich" vorkommt (und oft auch ist): "In 13  Schritten zum XYZ - Sie werden erstaunt sein, was in Ihnen steckt. - Machen Sie sich einfach auf den Weg mit uns. Mit diesem Buch haben Sie den ersten Schritt getan. Wenn Sie nun noch alle Übungen in diesem Buch sorgfältig ausführen ...".

Ich fühle mich manchmal auch an die Erweckungs- und Heilungsgottesdienste in evangelikalen US-Fernsehsendern erinnert, in denen die Lahmen gegen Ende der Show aufgefordert werden, ihre Krücken wegzuwerfen und die Herzkranken, ihre Medikamente im Müll zu entsorgen. Und dann verlassen die Kranken gestärkt, geheilt und ohne Krücken und Medikamente den Saal... - Für wie lange?

Und last not least: Ich vermute, dass Satir, Erickson und Perls es ganz schön frech finden würden,  wenn sie wüssten, dass sich Grinder (*1939) und Bandler (*1950) mit ihren NLP-METHODEN auf sie berufen? 

Beispiel: Die "NLP-Methode Pacing" (= "Spiegeln"), die ursprünglich ein Teil-Element aus der Methodik der klientenzentrierten Beratung von Carl Rogers ist. Doch das Ziel des Spiegelns ist bei Rogers und in NLP ein völlig Anderes, ja entgegengesetztes. -  In NLP wird deshalb folgerichtig aus "Spiegeln" > Pacing and Leading, also Spiegeln und Führen: Sobald ich es mit der NLP-Methode Pacing,  die eher wie ein Trick daher kommt,  geschafft habe, das Vertrauen des Kunden zu erwerben, kann ich dazu übergehen ihn zu (ver-?) führen. Zitat:

"Durch das Spiegeln wird die »Ja-Einstellung« gefördert. Wenn diese Einstellung erst einmal etabliert ist, wird es möglich, das Spiegeln in ein Führen umzulenken ..."
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Inhaltlich betrachtet,

findet man in den NLP-Büchern viele alte Bekannte wieder, auch wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt werden wie die drei o.g. Meister-Therapeuten -  und neben zweifelhaften Methoden finden sich auch  erfolgreiche und bewährte Methoden aus dem "Handwerkskoffer" der unterschiedlichsten Therapie-Arten.

Einer der berühmten Hunde des russischen Physiologen und Mediziners (gest. 1936)
Iwan Petrowitsch Pawlow. - Das "Ankern", ein wichtiger Bestandteil in der NLP-Methodik, basiert auf der Methode des Konditionierens, die Pawlow erforschte.

Auf den ersten 40 Seiten fand ich Ideen aus dem Konstruktivismus, der Perception Control Theorie von William T. Powers, der kognitiven Verhaltenstherapie, der Klassischen Konditionierungs-Lehre des russischen Physiologen Pawlow und seiner Hunde, der systemischen Theorie, der Positiven Psychologie von Seligman, sehr viel aus der Kommunikationslehre von Friedemann Schulz von Thun (4-Seiten-Modell, Modell vom Inneren Team), viel aus der Lehre von den Lernzielen des amerikanischen Psychologen Robert F. Mager, von Carl Rogers u.a. - (Rogers legte übrigens Wert darauf, dass es sich bei Therapie und Beratung nicht um eine Methode handele, sondern um eine Haltung des Beratenden gegenüber den Ratsuchenden.)


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 So kann man verkürzt und etwas gemein sagen:

NLP ist eine Art "Best Off" aus allen möglichen Therapie- und Beratungsrichtungen, die ohne Theorie und Menschenbild (vielleicht mit dem heimlichen Menschenbild "Der Mensch als Kunde") zusammengefügt wurden. - Die Grundlage der in Anspruch genommenen "Meister-Therapeuten" Perls, Satir u.a. -  die humanistische Psychologie - wird außen vor gelassen. 

Statt der Originale gibt es ein Pottpourri aus bewährten Methoden (z.B. die "Zielbestimmung", die in NLP "Wellformed Outcome" genannt wird) und teils skurrilen Methoden wie dem "Modeling" (erfolgreiche Vorbilder nachahmen); dazu wird von zwei NLP-Trainern über den NLP-Gründer Richard Bandler berichtet, dass dieser sein Vorbild, den überaus erfolgreichen Milton Erickson "modellierte", nachahmte, indem er dessen Akzent nachmachte und anfing dicke Zigarren zu rauchen... . Ziel: Durch "Modeling" so werden wie das Vorbild. 

Richard Bandler 2007
NLP ist offenbar hervorragend geeignet, wenn man etwas erfolgreich verkaufen will.  - Für sensible Bereiche wie Organspende (siehe oben)    reicht das, was  "nützlich und brauchbar" erscheint, allein nicht aus. - Und für die Beratung in der Schule?

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„Keiner weiß besser, was ihm gut tut und für ihn notwendig ist, als der Betroffene selbst. Wir können einander also nicht beibringen, was für uns gut ist. Nicht mit noch so ausgeklügelten Techniken. Aber wir können einander dabei unterstützen, es selbst herauszufinden.“
(Schmid, Peter F.: Der Personenzentrierte Ansatz Carl R. Rogers)



Siehe auch: Die Glücks-Formel und "wie das Positive Denken die Welt verdummt".   

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Freitag, 3. August 2012

Es gibt viele Alternativen zu G8. - Neuerdings.


Es gibt keine rationales Argument gegen G8 sagt Prof. Weishaupt.

Doch es gibt viele Alternativen zu G8. 
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Horst Weishaupt, 64, ist Professor am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, DIPF,  in Wuppertal.

In einem Interview sagt er auf die Frage, ob G8 gescheitert sei:
Nein. ... Es spricht nichts dafür. Wir haben beobachtet, dass die Schüler durch G8 in den letzten Schuljahren weniger jobben und sich mehr auf ihr Abitur konzentrieren. Ich weiß nicht, ob das ein Grund zur Klage ist.

... Die Kultusminister haben die zusätzlichen Stunden [die im 8-jährigen im Vergleich zum 9-jährigen Gymnasium weggefallen sind] vor allem in die Mittelstufe gepackt und nicht in die Oberstufe. Andererseits: In unserer Untersuchung in Thüringen konnten wir nicht feststellen, dass die Freizeitaktivitäten der Mittelstufenschüler unter der höheren Stundenzahl gelitten hätten.

Es ist gut belegt, dass das 13. Schuljahr den Gymnasiasten bisher nicht wirklich viel gebracht hat. Die Leistungen in Mathematik und den Fremdsprachen haben sich im letzten Schuljahr nicht mehr bedeutsam gesteigert. Rational gibt es keine Argumente gegen G8.

Es gibt einen Punkt, den ich psychologisch für außerordentlich wichtig halte: Durch G8 schließen Gymnasiasten in der Regel mit ihrer Volljährigkeit die Schule ab, beides passt zusammen. Ein junger Erwachsener hat im Konfliktfall kurz vor dem Abitur Schwierigkeiten, seine Interessen gegenüber der Schule zu vertreten. Keine schöne Situation für jemanden, der doch längst mündig ist.

Wer seinem Kind neben der Schule mehr Zeit für Hobbys lassen möchte, soll die Möglichkeit dazu haben [sein Kind auf das 9-jährige Gymnasium zu schicken]. . So gibt es für jeden Lebensstil einen passenden Weg.

Es kann gut sein, dass [auch] leistungsfähige Schüler das neunjährige Abitur leisten, um zum Beispiel Zeit für ein Auslandsjahr zu haben.
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Das Abitur kann in BW
  • auf einem Gymnasium erworben werden (in 8 oder in 9 Jahren, also in G8 oder G9). 
  • Oder auf einer "Oberschule". Letzteres heißt in der Terminologie bei uns in Baden-Württemberg  "Gemeinschaftsschule mit Anschluss an eine gymnasiale Oberstufe" (in 9 Jahren).
  • Oder durch Wechsel  nach Klasse 7 der Realschule oder des Gymnasiums oder der Gemeinschaftsschule in die Klasse 8 eines beruflichen Gymnasiums (in 9 Jahren).
  • Oder auf einer Gesamtschule (i.d.R. in 9 Jahren) - dort, wo es noch eine gibt (Mannheim, Freiburg..).
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Aus Berlin berichtet "Pisa-Versteher" Christian Füller:

"Nicht die Gymnasien sind Berlins Publikumslieblinge, sondern die neuen Sekundarschulen [sie entsprechen in BW den Gemeinschaftsschulen] – und das obwohl das Elternwahlrecht für die höhere Schule praktisch frei gegeben ist.
Das heißt, jeder könnte ans Gymnasium.
Auf den Plätzen 1 bis 10 der beliebtesten weiterführenden Schulen aber rangieren integrierte Schulen. Was heißt das? Die Eltern wählen lieber den fröhlichen Spatz Gesamtschule in der Hand als die schnelle Taube Gymnasium auf dem Dach – sofern auch der Spatz zum Abi flattern darf. ...
Die Eltern vor Ort entscheiden sich in lokalen Schulvolksabstimmungen regelmäßig für diese einst so verdammte Schulart aus den 70er-Jahren. Der entscheidende Schub kam in Niedersachsen – durch das Schnellabi in acht Jahren. Viele Eltern nahmen das zum Anlass, ihre Kinder an die Gesamtschule zu retten, wo sie neun Jahre aufs Abitur lernen können.  ...
Jetzt, mit G8 und G9, ist plötzlich eine andere Situation da: Beide Formen sind heute attraktiv – auch für Bildungsbürger; beide sind gleichwertig – wenn auch verschieden. Bringt ausgerechnet das verzwickte G8/G9 Frieden in einen Schulkrieg, der in Deutschland geführt wird – im Grunde seit sich 1869 das humanistische und das Realgymnasium um das Abiturprivileg zu streiten begannen?" ...

Siehe auch:

Realschule > Gemeinschaftsschule , Mittelschule, Oberschule.