Mittwoch, 3. Juli 2013

Philosophie oder Blödphrasen-Bingo? - "Unser Lehrer Dr. Precht".

Vowort zum Bingo:

Mein Rechtschreibprogramm in Word 2010 ist auch nicht auf dem aktuellen Stand der Pädagogik:
  • Wenn ich "Lerngruppe" eingebe, dann kennt es das Wort noch nicht und schlägt vor: "Lehmgrube", "Lohngruppe" und "Kerntruppe".
    (Bei genauem Nachdenken steckt vielleicht in jedem Vorschlag ein Körnchen Wahrheit.)
  • Und bei "Lerncoach" schweigt das Programm ganz. Der eingebaute Thesaurus sagt: "Es wurden keine Ergebnisse gefunden". - Schwache Leistung.
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Schon immer gab es auch in der Pädagogik einen Zeitgeist mit den dazu gehörigen Mode-Begriffen. Vor Jahren und Jahrzehnten waren das z.B. "antiautortär",  "Programmiertes Lernen", "Sprach-Labor", "Gruppendynamik", "Einstieg-Erarbeitung-Sicherung", "Lerziel-Taxonomie", "Methodenwechsel", "Lernstraße", "Lernzirkel"... .
Heute sind es BBB(B) und viele andere

Über die aktuell gültigen Begriffe (und Irrtümer?) macht sich in diesem Monat eine Glosse in der Zeitschrift bildung & wissenschaft 06/2013 lustig.
Nachstehend die Glosse in Auszügen. 



"Unser Lehrer Dr. Precht"

Siehe zum Thema auch: 

GLOSSE:
„Wusstet ihr eigentlich, dass wir unseren Hauptaufgaben in der Schule überhaupt nicht gerecht werden?', frage ich in der großen Pause im Lehrerzimmer. “Und was ist das?“, will eine Kollegin wissen. “Individuelle Persönlichkeitspotentiale entfalten und wecken“, antworte ich. "Echt?", fragt eine Kollegin ziemlich des­interessiert, "wer sagt denn das schon wieder?“ „Richard David Precht", antworte ich. "Aha", sagt sie. 
Jetzt hat er ein Buch geschrieben. Es heißt „Anna und der liebe Gott. Der Verrat des Bil­dungssystems an unseren Kindern''. Und es geht um nicht weniger als um die „Revolution des deutschen Bildungssystems. Das findet zumindest der Autor selbst. Aber ehr­lich gesagt, das Buch nervt.
Beim Lesen fühlt man sich wie bei einem Elternge­spräch der unangenehmen Sorte. Man trifft diese nervigen Eltern eines nervi­gen Schülers beim Sprechtag oder an der Supermarktkasse und wird sie nicht mehr los. [...] "Das hatten sie mir schon lange mal sagen wollen, so wie der Unterricht bei uns an der Schule laufe, sei es ja kein Wunder, dass die Kinder nichts kopieren und unruhig sind, das höre man doch jetzt überall. Und die allerschlimms­ten dieser pädagogischen Wegelagerer haben dann auch noch Vokabeln wie "Lerncoach" oder "heterogene Lerngrup­pen" drauf. Akademikereltern.
 
Und genau so einer ist Precht. Aber das Furchtbare ist: Man begegnet ihm nicht nur beim Elternsprechtag oder an der Supermarktkasse, sondern überall. Ich drehe das Radio an, da erzählt mir der Precht im Deutschlandfunk von Maria Montessori und dass das Kind "Bau­meister seiner selbst' sei, dass er nichts gegen, sondern alles für die Lehrer wolle. Klar, denke ich, und schalte wieder aus. [...] 
Ich bekomme donnerstags "Die Zeit“. Wer ist auf der Titelseite? Genau! Der Precht! Abends bin ich fertig mit korri­gieren, ich schalte den Fernsehapparat ein, und wer lümmelt da im Talkshow­sessel. Genau, unser Lehrer Dr. Precht! Und, natürlich im Buchladen, da steht er auch im Bestsellerregal. Im Lehrerzimmer halte ich das Buch hoch‑ „Kennt ihr das?" Eine Kollegin ver­dreht die Augen. Aber bei der anderen Kollegin leuchten die Augen auf. [...] 
Als Hauptschulpädagoginnen wollen die Kolleginnen natür­lich wissen, ob der Philosoph etwas über uns schreibt. Tut er natürlich: "Hauptschulen sind keine Schulen im Sinne von Schule mehr, sondern Ver­wahrungsanstalten, in denen die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern bildungsfern bleiben“. Ich dachte ja bisher immer das sei das BEJ. Betre­tenes Schweigen. Dann lese ich aus Prechts Artikel in der "Zeit" vor. „Kinder wollen ler­nen", „Jedes Kind ist anders“. Da gähnt die erste Kollegin schon. Die andere meckert, das sei doch „blablabla". "Vergesst die Fächer“, "Bildet Teams“, „Fördert Werte“ lese ich tapfer weiter, aber die Kolleginnen wer­den langsam unkonzentriert und fan­gen an, sich wieder über andere Dinge zu unterhalten. [...] 
„Das machen wir an der Hauptschule doch alles schon seit tau­send Jahren“, beendet eine besonders resolute Kollegin meine Lesung. "Wir konnten doch Blödphrasenbingo spielen“, schlägt eine andere Kollegin vor und deutet auf „Anna und der Liebe Gott'. Wer als erster fünfmal „individuelle Förderung“ oder „Lerncoach“ gehört hat, kriegt einen Kinderriegel. 
Damit ist alles gesagt über Richard David Prechts „Revolution“: Blödphrasenbingo.
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Aus dieser Glosse spricht viel Schmerz; vielleicht mehr Schmerz als Humor. Galgenhumor?
  • Über "Akademiker-Eltern", die "Hauptschul-PädagogInnen" nicht wertschätzen bzw. über HauptschulpädagogInnen, die das Gefühl haben, als "Nur-PH-AbsolventInnen" von Akademiker-Eltern nicht wertgeschätzt zu werden. 
  • Dass der derzeit telegenste und populärste Philosoph Deutschlands offenbar nicht weiß und schätzt, dass "wir in der Hauptschule das schon seit tausend Jahren machen" und wissen, was er jetzt als der Weisheit letzten Schluss mit viel Lärm und Tamtam vermarktet.
  • Über mangelnde (oder gefühlte mangelnde) Wertschätzung der Arbeit von LehrerInnen im Allgemeinen. - Nicht von ungefähr steht "Das Lehrerhasser-Buch" auf dem Amazon-Bestselle-Rang Nr. 31 in der Rubrik: Bücher > Lernen & Nachschlagen > Schule, Unterricht & Lernhilfen > Allgemein.

  • Darüber, dass die Hauptschule als "Verwahrungsanstalten" gelten - obwohl doch das BEJ (Berufseinstiegsjahr) die wahre Verwahrungsanstalt sei.
Da hilft dann nur: Angriff als beste Verteidigung: Eltern sind Wegelagerer, der Philosoph ein Blöd-Phrasendrescher. (Okay, es ist nur eine Glosse. Aber trotzdem.)
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Ja, es stimmt:
  • Eltern können manchmal nervig sein; es gibt nicht nur LehrerInnen, die sich "in alles einmischen", auch Eltern.
  • Was Precht in seinem Schul-Buch als "Revolution" bezeichnet, das wissen und tun viele engagierte LehrerInnen und PädagogInnen schon seit Langem. - Auch wenn es für die breite Öffentlichkeit oft verborgen bleibt und ab und zu ein Bundeskanzler Lehrer als "faule Säcke" tituliert.
  • Philosophen müssen auch irgendwie ihre Brötchen verdienen und ihre Kinder ernähren (am Besten durch Bestseller, wenn sie keine hoch-dotierte Professorenstelle haben). 
  • Und: Es gibt andere Wege des Umgangs in der Schulgemeinde als Lehrer- und/oder Eltern-Schelte.

Ich denke da z.B. an die Zusammenarbeit von Eltern und LehrerInnen, wie sie Heim Omer in seinen Büchern beschreibt. Zum Beispiel:


  • Amazon Bestseller-Rang: Nr. 8.919 in Bücher
    • Nr. 6 in Bücher > Ratgeber > Eltern & Kinder > Eltern allgemein
    • Nr. 19 in Bücher > Politik & Geschichte > Geschichte allgemein
    • Nr. 34 in Bücher > Fachbücher > Psychologie > Angewandte Psychologie
Klappentext (verändert):
Mit diesem weiteren Buch beschreiben die Auroren Haim Omer und Arist von Schlippe nicht nur gute und erprobte Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern und berufliche "Autoritäten".  Sie offerieren eine nicht "laissez-faire" - ausgerichtete partnerschaftiche Haltung im Umgang mit Kindern, Schüler, Jugendlichen und "Anbefohlenen". - Insbesondere werden die "verantwortlichen" Eltern zurück ins "Erziehungsboot" geholt unter Wahrung von Respekt und auf der Ebene von Fachkundigen für ihre Kinder.

Autorität durch ernst gemeinte Kooperation - und der gute, erforderliche Respekt stellt sich ein - um die herausfordernden Aufgaben mit Freude und gesund wahrnehmen zu können - privat, im Bereich der Familie, im Beruf.  Siehe auch

Beide Bücher sind für LehrerInnen und Eltern wahrscheinlich fruchtbarer als "Anna und der liebe Gott". 

Ausschnitt (S. 62):
Wie kann man Lehrern ein Gefühl von Stolz vermitteln, deren Ansehen in der Gesellschaft - und vielleicht auch in ihren eigenen Augen - niedriger denn je ist? Oder Eltern, die sich schon lange an die tagtäglichen Erniedrigungen durch ihr Kind gewöhnt haben [...]?
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