Mittwoch, 4. September 2013

Von Akademisierungs-Wahn, Azubis und der "Pädagogischen Provinz"


Berlin - Der Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Julian Nida-Rümelin, hat davor gewarnt, dass in Deutschland zu viele junge Menschen studieren und keine Berufsausbildung absolvieren. "Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".

"Bald laufen die Studenten den Azubis den Rang ab. Das finde ich falsch." Die hochwertige Berufsausbildung im dualen System funktioniere nur, "wenn die Mehrzahl eines Jahrgangs weiter in die berufliche Lehre geht, nicht eine kleine Minderheit".
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Dazu drei Fragen:
  1. Gibt es einen Akademisierungs-Wahn?
  2. Wenn ja: Wäre das gut oder schlecht 
  3. - und für wen oder was wäre es gut bzw. schlecht?
Screenshot 1
Die deutsche Statistik zeigt: 

Es gibt in Deutschland einen großen Zuwachs bei der "Abiturienten-Quote" eines Jahrgangs und zwar von gut 10% eines Jahrgangs im Jahre 1972 auf fast 60% in 2012, das ist eine Ver-fünf-fachung in 30 Jahren.
Abitur, das bedeutet: Uneingeschränkte "Studier-Fahigkeit", Studien-Berechtigung, Zugang zur Universität. - Es bedeutet noch nicht, dass man auch tatsächlich studiert. Die Zahl, die darüber Auskunft gint, ist die Studienanfänger-Quote (siehe unten).



Ist das nun schon der Wahn? 
Oder ist es einfach nur gut, denn je mehr Menschen eine höhere Bildung haben, um so besser ist es ja für diese Menschen.

Schauen wir uns eine weitere Statistik zum Vergleich an:

Screenshot 2
Diese Statistik zeigt, dass die Abi-Quote ("Studien-Berechtigte") in Deutschland bei 55% liegt. Was man hier nicht sieht: 40% eines Jahrgangs haben die "Allgemeine Hochschulreife" = Zugang zur Uni; dazu kommen 15% eines Jahrgangs mit "Fach-Hochschschul-Reife", d.h. Zugangsmöglichkeit zu einer Fach-Hochschule. -
  • Damit liegt Deutschland auf dem vorletzten Platz in der OECD, vor Griechenland. 
An der Spitze mit der Abi-Quote (Zulassung zur Hochschule = Zugang zum tertiärem Bildungsbereich) liegen Finnland (mit 93%), es folgen Spanien (mit 75% auf Platz 2) und Italien (mit 74% auf Platz 3) und dann folgen zwei asiatische Länder.

In Deutschland liegt die "Studienanfänger-Quote" bei 43% eines Abitur-Jahrgangs, im OECD-Durchschnitt bei 56%. Das heißt für Deutschland: 43% der AbiturienInnen nehmen nach dem Abi ein Studium an der Uni, an der Fachhochschule oder an einer Verwaltungs-Fachhochschule auf. - Die höchsten Studienanfänger-Quoten haben Australien (87%), Polen (83%), Portugal (81%). - Vergleichbar mit Deutschland ist die Schweiz mit 38%. Österreich liegt bei 50%.  [Quelle]

Es könnte sein, dass der Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin (* 1954 in München) bei dem Wort "Akademisierungs-Wahn" an die 34 Mitgliedstaaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) dachte, denn in der Tat ist es die OECD, die immer wieder betont, dass Deutschland - im Vergleich zu anderen OECD-Mitgliedsstaaten - mit 55% eine zu geringe AbiturientInnen-Quote habe:  
Die OECD hat 70% als Zielmarke.

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Die OECD gilt als wirtschafts-nah und wirtschafts-freundlich.
"Der ökonomische Nutzen von Bildung
für den Einzelnen und die Gesellschaft sowie Chancengleichheit im Bildungssystem stehen in der bildungspolitischen Arbeit [der OECD] im Vordergrund. Im jährlich erscheinenden Publikation Bildung auf einen Blick veröffentlicht die OECD vergleichende Statistiken und Indikatoren zum Ressourceneinsatz in Form von Finanzmitteln oder Personalausstattung in nationalen Bildungssystemen und analysiert, wie sich Bildung auf Innovationskraft und Arbeitsmarkt auswirken. Mit der PISA-Studie hat die Organisation sich international einen Namen bei der Messung von nach bestimmten Kriterien entwickelten Leistungsdaten 15-Jähriger gemacht."
[wikipedia]

Das sagt uns: Offenbar hat die Wirtschaft ein großes Interesse daran, die Quote der Studienberechtigten eines Jahrgangs zu erhöhen. Warum? Böse Zungen behaupten oder vermuten, je mehr AbiturientInnen ein Land hat und je mehr junge Menschen studieren um so größer ist die Auswahl für die Abnehmer, die Wirtschaft, und um so stärker können sie dann die Löhne für die AkademikerInnen drücken. Und  es scheint zumindest auch so zu sein: Spanien, Griechenland, Italien, das sind die Länder mit den vielen arbeitslosen AkademikerInner und den hohen Arbeitslosenzahlen nebst Wirtschafts- und/oder Finanz-Krise. In Spanien spricht man von der "verlorenen Generation", in Rom gibt es gewaltsame Jugend-Proteste, und in Griechenland nützt auch der Hochschulabschluss nichts, um einen Job zu bekommen ... .

Aufstieg durch Bildung? - Ein uneingelöstes Versprechen.

Sicher ist, wie man sieht: 
  • Die Zahl der AbiturientInnen und Studierten alleine ist nicht maßgeblich für den wirtschaftlichen  Erfolg eines Landes.

In vielen Ländern ist der Hochschulabschluss kein Garant für einen Arbeitsplatz - nur in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sieht es besser aus. Und das sind übrigens auch die einzigen Länder mit einem Dualen Ausbildungs-System, d. h. eine Kombination von Praxis (als Auszubildende/r im Betrieb) und Theorie (Berufsschule). - Hängt das vielleicht irgendwie zusammen?
Zumindest US-Präsident Obama bewundert das deutsche Berufs-Ausbildungs-System:

Screenshot 3
Friedrich Hubert Esser vom  Bundesinstitut für Berufsbildung spricht von einem Hype des Interesses am Dualen Ausbildungs-System, weil viele Länder offenbar die Vermutung haben, dass der derzeitige Erfolg der deutschen Wirtschaft mit der dualen Ausbildung zusammenhängen könnte. Nachfragen kommen aus Kolumbien, Brasilien, Südafrika, China, deren Abgesandte durch die Welt reisen, um das Ei des Kolumbus zu finden.
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p.s.:
Julian Nida-Rümelin ist Philosoph. Vielleicht hat er beim "Akademiker-Wahn" auch an Goethes "Pädagogische Provinz" gedacht. Denn:

"Die Pädagogische Provinz ist das Bild einer erzieherischen Gemeinschaft, in der das Erlernen handwerklicher Tätigkeiten als Grundlage und Ausgang der Bildung betrachtet wird und die Schüler angeleitet werden, Ehrfurcht vor Gott, vor den Mitmenschen, vor Leiden und Tod und damit schließlich vor sich selbst zu haben, zeichnet Goethe als Utopie in seinem Bildungsroman »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (1829). Im ersten Kapitel des zweiten Buches überschreiten Wilhelm und sein Begleiter Felix »die Grenze der Provinz, in der sie so manches Merkwürdige erfahren sollten«. In der Sekundärliteratur zu Goethe hat man in Bezug auf diesen Abschnitt schon früh von der »pädagogischen Provinz« gesprochen. 
Über den Roman hinaus wurde der Begriff dann als Bezeichnung pädagogischer Idealentwürfe gebräuchlich."    Quelle: Univerlalexikon 2012
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p.s.
Von der Vergleichbarkeit der Abiture
Bisher gilt ein Abitur in Bayern oder Baden-Württemberg als "besser" oder "höherwertig" als ein Abitur z.B. in Bremen.
Daran wird aber gearbeitet und zwar sowohl auf deutscher, als auch auf europäischer und internationaler Ebene. Der Deutsche Qualifikations-Rahmen ist die nationale Umsetzung des "Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen"; er soll die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems berücksichtigen und zur angemessenen Bewertung und Vergleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa beitragen. Zunächst werden alle formalen Qualifikationen des deutschen Bildungssystems in den Bereichen Schule, Berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildung einbezogen. Am Ende gibt es dann vielleicht einen Europäischen Bildungspass und ein Diploma-Supplement, die mit dem Meisterbrief und/oder dem Abitur-Zeugnis ausgeteilt werden und aus denen dann die Vergleichbarkeit der Leistungen hervorgeht. Prof. Hurrelmann meint, dass die Vereinheitlichung der deutschen Abiture vielleicht erst über den Umweg Europa kommen wird.

Man kann das Ganze natürlich auch weniger bürokratisch regeln, z.B. so wie in den USA: Dort schaut man einfach auf die Ranking-Liste, die sagt uns dann, wie angesehen die Schule oder die Hochschule ist, und danach wähle ich (als Eltern, als Studierender, als Arbeitgeber) dann aus, wohin die Reise geht und wen ich mitnehme. 

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