Freitag, 31. Mai 2013

Therapie, Pädagogik und Unterricht


Was hat Unterricht mit Therapie zu tun? - Nichts.

  • Was hat Schule mit Therapie zu tun? Nichts.
  • Pädagogik und Therapie sind zwei verschiedene Dinge.
  • Manche LehrerInnen behaupten sogar: Unterricht hat nicht`s mit Pädagogik zu tun. Nur mit Methodik und Didaktik. - O.k. - Geschenkt.
  • Sicher ist: Wenn ich Mathe unterrichte, bin ich kein Therapeut. - Das ist klar.
  • Mathematik-Lernen hat sogar - wie der Philosoph Richard David Precht meint - noch nicht einmal unbedingt etwas mit Mathematik-LehrerInnen zu tun.
    Denn:
    Mathe kann man ich mir besser ganz alleine und individuell mit Hilfe eines tollen Computer-Programms beibringen als mit Hilfe eines Mathelehrers.
Quelle
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Jedoch:
Es gibt ein paar erstaunliche Parallelen: Nämlich in der Wirksamkeit von Therapie und Unterricht. 

  1. Immer wieder wird in der einschlägigen Literatur die Bedeutung der therapeutischen Beziehung betont. Sie gilt in der Psychotherapie-Forschung als wichtigste Wirk-Komponente. 
  2. Das am besten belegte Ergebnis der Psychotherapieforschung, auch als "Dodo Bird effect" bekannt, ist  dass alle Therapien gleich gut wirken. Eine Überbetonung der Methode ist sogar eher kontraproduktiv. So fand der Kölner Professor für Medizinische Psychologie Volker Tschuschke, Jahrgang 1947,  in einer Verlaufsstudie mit 300 Patienten heraus, dass Therapeuten, die Elemente aus verschiedenen Verfahren auswählten und auf den jeweiligen Patienten abstimmten, die besten Ergebnisse erzielten. 
Ganz ähnliche Ergebnisse gibt es auch für den Erfolg von Unterricht. - 
Jenseits aller Schul -Formen und -Methoden des Unterrichts gilt:

  1. Benjamin Bloom hat Hochleister aus unterschiedlichen Bereichen untersucht, um herauszufinden, ob sie etwas gemeinsam haben, das zu ihren hohen Leistungen geführt hat. - Man hat im Grunde nichts gefunden, mit einer Ausnahme: Dass alle frühzeitig eine Person gefunden haben, die sich für sie selbst sehr engagierte, für ihren Lernfortschritt, für ihr Weiterkommen.
    Das heißt mit anderen Worten: Die Beziehung der des Lehrenden zum Lernenden ist die wichtigste Komponente für die Hochleistung von Lernenden.
  2. Mischwald ist besser als Monokultur  (wie es der Schulpädagoge Prof. Hilbert Meyer formuliert). Es gibt nicht DIE Methode für den erfolgreichen Unterricht, sondern eine Mischung aus individualisiertem und kooperativen Unterricht sowie direkter Instruktion scheint am Wirksamsten zu sein.
    Oder: LehrerInnen, die Elemente aus verschiedenen Unterrichts-Formen angemessen und kompetent mischen und kombinieren werden die besten Lern-Ergebnisse ihrer SchülerInnen erzielen. 


Quelle
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Von Schule, Gefühlen, Trennungsängsten und Zuckertüten

"Zwischen Geburt und Tod 
spannt sich eine Kette von Tren­nungen und mit ihr eine Serie von Trennungsängsten. Als Baby schreien wir, wenn wir uns von der Mutter verlassen fühlen. Wenn wir laufen lernen, blicken wir uns ängstlich immer wie­der nach Mutter und Vater um. Und doch wollen wir laufen lernen. Einerseits streben wir mit unbändigem Vergnügen von den Eltern weg, andererseits möchten wir uns ihrer haltgeben­den Präsenz versichern. Einssein und Autonomie - zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das principium individuatio­nis, das Gesetz der Ich-Werdung, bei jedem Lebewesen. 




Quelle

Wir verlassen die Kleinstwelt des Laufstalles, 
das Territori­um des Hauses, des Gartens, der Straße, wir entfernen uns in die weitere Umgebung. Wir schlafen zum ersten Mal, mit Herz­klopfen und leisem Heimweh in der Brust, bei den Großeltern. Wir müssen die Abwesenheit der Eltern aushalten. 

Der Eintritt in die neue Welt des Kindergartens und gar in das Ensemble der ersten Schulklasse und den strengen Kosmos der Leistun­gen und Noten schaffen wir meist nur mit Tränen. Nicht umsonst bestücken uns die Eltern beim Schuleintritt mit einer Megapackung von Antidepressiva, sprich der Schultüte mit den - höchst ungesunden - Stimmungsaufhellern und Sedativa aus Fabrikzucker ..."



Sabine: "Ich für meinen Teil habe die Schule vollgestopft mit Wis­sen, aber als Analphabetin der Gefühle verlassen. Ich sehe, dass unsere so genannte Zivilisation auf einer pathologi­schen Verdrängung der Gefühle beruht. Für mich bedeutet das eine absolute Bewusstseinsverengung. . . .

Und gleichzei­tig kommt so eine Wut in mir hoch. Ich weiß gar nicht, soll ich sagen, auf diese Zeit, auf diese Gesellschaft, die Schule, die Erziehung, die mir so absolut gar kein Wissen, gar kein bisschen Handwerkszeug mitgaben, um wenigstens etwas von dem zu erahnen, was an menschlichen Krisen zum Le­ben gehört, was Beziehung auch bedeuten kann.
" ... 


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Wir wissen nicht, wann Sabine zur Schule ging und ob sie ihre Schulzeit "richtig" erinnert. 
Heute bieten die Bildungspläne der Schulen zahlreiche Gelegenheiten und Möglichkeiten,  den Umgang mit Gefühlen verbal oder nonverbal, explizit oder implizit zu thematisieren: 
Im Theaterspiel, in der Deutsch-Lektüre (z.B. Ben liebt Anna, die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Unterm Rad, Fänger im Roggen, Sieben Minuten nach Mitternacht, Die Mitte der Welt), im Religions- und Ethik-Unterricht (Freundschaft-Liebe-Partnerschaft, Sterben-Tod-Auferstehung, Lot und Abraham, David und Jonathan, Sodom und Gomorrha, das Hohe Lied der Liebe). 
Die Möglichkeiten müssen nur beim Schopf ergriffen werden. 

Quelle

Sonntag, 26. Mai 2013

Richard David Precht, die Schule, der liebe Gott, Neuanfang, Gefährdung und Scheitern



Ende April 2013 gab es ein Interview mit Richard David Precht (*1964) in der ZEIT, in dem dieser erklärt, warum er glaubt, dass die deutschen Schulen zu den schlechtesten der Welt gehören -  und natürlich wie er sie verändern will. 

Das Interessanteste an dem Interview sind allerdings nicht unbedingt die Antworten des Philosophen, sondern die Fragen der beiden Redakteure, Thomas Kerstan & Martin Spiewak: 
"Geht’s nicht eine Nummer kleiner? / Ganz so schlecht können unsere Schulen nicht sein. / Wie viel Faktenwissen bei den Schülern hängen bleibt, ist doch kein Kriterium für Erfolg. / Man bekommt eher das Gefühl, dass Sie die Zahlen und Argumente so zusammenstellen, dass sie zu Ihrem Katastrophenbefund passen. / Wo ist die Evidenz, dass die von Ihnen propagierte Schule besser ist?" 

Precht sagt: 
"... möchte ich mit meinem Buch eine Bewegung anstoßen, die zu einem grundsätzlichen Strukturumbruch in der Schule führt. Das ist das Revolutionäre."

O.k.: Seine Kritik am Schulwesen ist nicht ganz neu (siehe unten, John Holt) und auch nicht soooo revolutionär - manchmal sind es nur Gemeinplätze.  Doch irgendwie müssen auch jüngere Philosophen ihr Geld verdienen, und da darf es schon mal etwas reißerisch sein. -  Sein Buch ist eine schöne und populäre Zusammenstellung von aktueller Schulkritik.
  • Etwa dass die Schüler an einem Tag fünf oder sechs verschiedene Fächer haben, die nichts miteinander zu tun haben.
  • Oder dass sie pausenlos Tests und Klausuren schreiben und anschließend das meiste von dem Gelernten wieder vergessen dürfen.
  • "Ich glaube, dass das, was unsere Kinder in der Schule lernen, und das, was sie im Leben brauchen, stärker als jemals zuvor auseinanderfallen."
  • Es kann doch nicht sein, dass wir mehr als neunzig Prozent von dem, was wir in der Schule lernen, wenige Jahre später vergessen haben. - Oder wissen Sie noch, was das Ohmsche Gesetz ist oder der Ablativus absolutus?
  • Seit Bekanntwerden der Pisa-Studie ist die Zahl der Kinder, die in Privatschulen gehen, rasant gestiegen. Wenn das so weitergeht, werden zumindest in der Mittelschicht irgendwann mehr Kinder auf private als auf öffentliche Schulen gehen.
  • Ich glaube nicht, dass man den Bildungsstand einer Nation in einem zweistündigen (PISA-) Test messen kann.
  • Sozialdaten belegen nun einmal eine sehr hohe Abhängigkeit des Schulerfolgs in Deutschland vom Elternhaus.
  • ... gibt es, wie Sie wissen, sehr unterschiedliche Schulstudien, die oft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
  • Unser Schulsystem atmet bis heute den Geist des 19. Jahrhunderts, als nicht Individualität wichtig war, sondern es darauf ankam, dass in einem bestimmten Zeitraum alle das Gleiche zu lernen hatten. Ich nenne es das Fabrikmodell.
  • Wir haben weiterhin ein gegliedertes Schulwesen; die Schule organisiert sich nach Fächern und Jahrgangsklassen; der Unterricht findet im 45-Minuten-Takt statt.
  • Viele Schulen nennen sich Ganztagsschule. Dabei sind sie in Wirklichkeit nur Halbtagsschulen mit Nachmittagsbetreuung.
  • Es gibt integrative Gesamtschulen für alle Kinder; doch sie ergänzen nur das alte dreigliedrige Schulsystem. Die Systemfehler – die Selektion, das uniforme Lernen mit Fächern, die Benotung von Leistung mit Ziffern – bestehen weiter.
  • Ich glaube, das liegt daran, dass das klassische Unterrichtsmodell sich viel zu wenig die Frage stellt, ob die Schüler in dem, was sie da vorgesetzt bekommen, einen Sinn sehen. Warum auch sollte sich ein 13-Jähriger – von Ausnahmen abgesehen – für eine 
    physikalische Formel interessieren?  

"Wir müssen wieder utopiefähig werden im Hinblick auf die Schule", sagt Richard David Precht, und das sieht dann z.B. so aus:



  • Die Schule muss – nachdem die Grundlagen gelegt sind – sehr viel stärker in Projekten unterrichten.
  • Da liest man mit dem Deutschlehrer den Faust, der Geschichtslehrer erläutert die Situation im damaligen Deutschland, und der Chemielehrer berichtet über alchimistische Versuche und macht dazu Experimente mit Eisen und Schwefel – und die Schauspielbegeisterten proben im Anschluss eine Szene aus dem Stück. 
  • Um Mathe zu lernen, braucht man keine Klassengemeinschaft. Es gibt mittlerweile so gute und spannende Lernprogramme, die Schüler individuell und auf eine spielerische Art durch den Stoff leiten.  
  • LehrerInnen können sich beim individualisierten Lernen in Mathematik als Lerncoaches den einzelnen Schülern sehr viel besser widmen als heute. 
  • Deutsch muss man ab der sechsten oder siebten Klasse nicht mehr als Fach unterrichten.
  • Konzepte wie jenes der Jenaplan-Schule mit ihrem jahrgangsübergreifenden Unterricht oder den Leistungsberichten statt der Zensurenzeugnisse. 
  • Hentig wird als Begründer der Idee erwähnt, in der achten Klasse den Unterricht durch ein sogenanntes Abenteuerjahr zu ersetzen. 
  • Lehrer müssen von Anfang an im Team arbeiten.   
  • Sie müssen lernen, den Unterrichtsstoff in Projekten und nicht mehr in Fächern zu vermitteln und Schüler individuell zu begleiten.
  • Finnland ist ein Beispiel dafür, dass ein Land sein Schulsystem innerhalb von zehn Jahren radikal umbauen kann. 
  • Abschaffung des Beamtenstatus für Lehrer. 
  • Beschneidung des Bildungsföderalismus. 
  • LehrerInnen sollen alle vier Jahre auf ein halbjähriges Sabbatical schicken, damit sie neue Erfahrungen machen, etwa bei den Ureinwohnern in Australien. 
  • Eines aber ist gewiss: Dieses Land ist reich genug, dass es sich ein besseres Schulsystem leisten kann.
Nun ja, es kommt drauf an, wofür eine Regierung unser Geld ausgibt...
s.a.: 
 
Kollege von Richard David Precht:
John Holt, New York 1964, :"How children fail".
John Caldwell Holt
(* 14. April 1923; † 19. September 1985)
war ein US-amerikanischer Autor und Pädagoge. Er veröffentlichte mehrere Bücher über selbstbestimmtes Lernen und Kinderrechte und gab die Zeitschrift Growing Without Schooling heraus. [wikipedia]


Ein jungerLehrer ist des staatlichen Schulbetriebs überdrüssig,
schart eine Gruppe Gleichgesinnter um sich ((Der Blogger war dabei...) und gründet eine Alternativschule: die Freie Schule Essen - das war 1974ff. 
Jahrelang arbeitet er in ihr, verlässt sie schließlich,
wird Gründungsrektor einer kirchlichen multikulturellen Gesamtschule...




Ivan Illich (1926-2002). Das Buch erschien 1971.
"Ja! Corruptio optimi quae est pessima" [Die Verderbnis des Besten ist das Schlimmste].