Freitag, 18. April 2014

Lerncoaching hat nichts mit Unterricht zu tun. Und auch nicht mit Lernberatung. - Auch von Moses, Aaron und der Tochter des Jairus.

(Zumindest nicht direkt.) -
Ein Lerncoach bringt niemandem den Satz des Pythagoras bei und beseitigt auch keine LRS-Störungen. - (Zumindest nicht in seiner Eigenschaft als Lerncoach).
  • Was mache ich als Lerncoach dann?
  • Erst mal meine Grund-Haltung von der LehrerInnen-Rolle umschalten in die Coach-Rolle, in den Coaching-Modus, in den Coaching-Mode...
  • Was gehört zum Coching-Modus?
  • Ich stürze zum Beispiel nicht herbei, um die Dinge in Ordnung zu bringen.
  • Ich stürze nicht herbei, um den Schüler oder die Schülerin in Ordnung zu bringen. 
  • Ich lege nicht die Finger in die schulischen Wunden, z.B. die schlechte Physiknote - von der ich sehr wohl weiß.
  • Ich fange nicht an, kluge Ratschläge zu geben, wie man zum Beispiel Vokabeln am besten lernt, welche Lerntechniken es sonst noch so gibt und wie eine erfolgreiche Schülerin ihren Tagesablauf gestalten sollte. - (Es sei denn, ich wurde konkret darum gebeten, solche Vorschläge zu machen.)
  • Ich fange nicht an zu konformieren, zu korrigieren und nach meinem Bilde umzutrainieren, um ganz rasch Erfolge zu erzielen. (Zumindest nicht zunächst; da stimmt das Wort "Coach" nicht wirklich).
  • Warum nicht?
  • Dadurch erhöhe ich den Druck von außen und der Schüler hat wieder den Eindruck: "Ich habe alles falsch gemacht; jetzt muss ich nur gehorsam auf dem Kasernenhof des Lebens antreten und entlang den Befehlen der erfahreren Lehrkraft losmarschieren".
  • Was mache ich denn dann?
  • Ich versuche die Lernenden zu verstehen.

Wenn es um Verstehen geht, 
darf man indessen überhaupt nichts ändern wollen. Man hört zu, man lässt gelten, man ist erst mal mit dem einverstanden, wie der andere ist. Man ist damit einverstanden, dass er da ist, dass es ihn gibt — mit der Art, wie er sich sieht, mit den Möglichkeiten, die er selber wahrnimmt und ins Spiel bringt.
Carls Rogers nannte das "Empathie und Akzeptanz": Ich fühle mich ein, stelle mich mental in die Schuhe der Schülerin, versuche die Schulwelt mit ihren Augen zu sehen, auch wenn ihre Sicht der Dinge mir ganz fremd ist und die Lehrerin in mir, die ja auch immer da ist, empört ist und am liebsten sagen möchte: So geht das nicht/ das stimmt doch nicht/ das siehst du ganz falsch/ denk doch mal nach/ von dir hätte ich viel mehr erwartet/ was soll nur aus dir werden/ wie kannst du nur...?!
Indem sich beim Erzählen und Zuhören und Nachfragen die Eigenwahrnehmung verstärkt, der Lernende von sich erzählt, wird sich von innen her für ihn etwas ergeben, das Selbstvertrauen bildet, das den Eindruck schafft,
  • ich bin nicht ganz verkehrt,
  • ich hab nicht alles falsch gemacht,
  • es kann doch keiner sagen, mein ganzes SchülerInnen-Dasein sei überflüssig und sinnlos verlaufen. 
An den Elementen, die sinnvoll waren, lässt sich anknüpfen....

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Jetzt kommt der theologische Exkurs (nach Eugen Drewermann, der 2005 aus der Kirche austrat).
Mich beeindruckt, wenn ich darüber nachdenke, eine Schlüsselstelle im Alten Testament. Es geht darum, dass Moses im 3. und 4. Kapitel des zweiten Buches Moses, im Buche Exodus, berufen wird, Israel in die Freiheit zu führen aus der Tyrannei des Pharao. Die Bibel schildert den Exodus als eine Freiheitsbewegung des Volkes aus Sklaverei und Unterdrückung. Das ist ein Bild, das gültig sein kann in sehr vielen analogen Lebenssituationen. 

Das Problem, das sich für Moses ergibt, liegt in seiner »Berufung« selbst. Er fühlt glühend den Willen zur Freiheit. Es sollte möglich sein, ein ganzes Volk in die Freiheit zu führen. Er will das. Da sieht er einen Dornbusch in Flammen stehen, der.snicht verbrennt, und dieser Widerspruch ist ein Bild für ihn selbst. 
  • Das Volk soll in die Freiheit ziehen, gewiss, 
  • doch dafür ist er, Moses, der falsche Mann. 
Um ein ganzes Volk in Brand zu stecken, müsste man reden können, begeistern können ... dramatisch als Rhetor auftreten, als Demagoge von göttlicher Herkunft sich präsentieren, und das alles kann er nicht. 
Deshalb erklärt er Gott, 
  • dass seine Idee, das Volk zu befreien, wunderbar ist, 
  • nur mit ihm ist sie nicht zu machen. 
Er sagt sogar: »Ich bin ein Mann — schwer der Worte, schwer die Zunge, ich! Und nicht nur seit gestern und vorgestern, auch seitdem du mit mir redest.« 
  • Das heißt: »Wenn du mich schon brauchen willst, dann solltest du mich zum Besseren verändern, das ist die Bedingung. 
Du aber tust das nicht. Ich fühle mich keinen Deut anders und besser, seit ich dir zuhöre. Also such dir, wen du willst, mit mir klappt es nicht.« — 
Alles, was wir von Medizin, von Psychotherapie, von Verwirklichung der Freiheit, von Veränderung des Menschen zur Identität im Glück erwarten, müsste erfolgsorientiert dahin gehen, dass Moses verändert wird, dass er auftritt als der Held, den das Volk gebrauchen könnte. Stattdessen erklärt ihm Gott: »Wer macht denn den Menschen« — und jetzt muss man fast erschrocken zuhören — »lahm oder gehend, taub oder hörend, stumm oder sprechend, wenn nicht ich selber? Und jetzt gehst du, und ich werde mit deinem Munde sein.«
Dass Moses seiner Berufung nachkommt, liegt daran, dass er bleibt, wie er ist, aber denkt, er sei für Gott gut genug, und dann soll er doch wohl auch für sich selber genug sein. Dann ist es, wie es ist, und besser.
Quelle
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Nun gut.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass von der Schülerin, die vor mir sitzt, einmal verlangt wird, ihr Volk aus der Sklaverei in die Freiheit zu führen. (Obwohl es auch nicht ganz ausgeschlossen ist.)
Was Drewermann an dieser Stelle nicht erzählt: Moses hatte einen Bruder, Aaron. Der war ein guter Redner. Den hat Moses deshalb mit ins Boot genommen und so sein eigenes Defizit ausgeglichen.  Gemeinsam waren sie stark.

Wozu ist die Schule da? 
Ja sicher: Um gute Noten zu bekommen, um einen guten Schulabschluss zu machen, um eine gute Ausbildungsstelle oder einen Platz an einer guten Uni zu bekommen, um gutes Geld zu verdienen, um eine Familie ernähren zu könne, damit die Kinder später dann auf eine gute Schule gehen können, wo sie gute Noten haben sollen ... Das ist der Tausch-Wert der Schul-Bildung.

Und was noch? 

"Bildung soll junge Menschen in der Entfaltung und Stärkung ihrer gesamten Person fördern – so, dass sie am Ende das Subjekt dieses Vorgangs sind", schrieb Hartmut von Hentig im Vorwort des aktuell noch gültigen Bildungsplanes 2004 in Baden-Württemberg. Entfaltung und Stärkung der ganzen Person. Der "ganzen" und der "Person". Wenn das so wäre, dann ginge es nicht nur um Schulfächer und Schulstoff, um Wissen und Schulnoten, sondern um mehr. - Ok, sagt jetzt vielleicht mancher: Klar, es geht um Kompetenzen. Aber das alleine hat Hentig nicht gemeint.
Der o.g. Carl Rogers hat schon 1961 sein einflussreiches Buch "On Becoming a Person" ("Die Entwicklung der Persönlichkeit") geschrieben.
"Wie man wird, was man ist" hatte Friedrich Nietzsche sein Buch "Ecce Homo" (Seht, welch ein Mensch) untertitelt. Und auch C.G. Jung sieht das "Werde, der du bist" als Ziel der Individuation an, der Ganzwerdung des Individuums. Bei allen drei Autoren geht es um die gleiche Sache, um das gleiche Anliegen.

Lerncoaching heißt dann auch, die SchülerInnen dabei zu begleiten, das zu werden, was sie sind - als jeweils einzelner und einzig-artiger Mensch sind. Das ist nicht unbedingt mit dem identisch, was ich als Lehr-Person denke, was das beste ist: Gute Noten, gute Zeugnisse... Wir wissen nicht, was dieser Mensch vor uns werden muss, damit er wird, was er ist. Jura-ProfessorIn, TierpflegerIn, FußpflegerIn, SchauspielerIn, KanzlerIn... Aber wenn es gut läuft, können wir ihm dabei helfen, es herauszufinden, wenn wir ihn nicht mit unserer Beratung ersticken.
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Zum Thema ersticken noch anlässlich des heutigen Karfreitags eine weitere Kostprobe aus dem o.g. Buch von Eugen Drewermann.
Jesus sollte ein Mädchen retten, das gerade dabei war zu sterben. Das Erstaunliche ist, dass Jesus sich auch für diesen Fall absolut Zeit lässt. Er erklärt: Das Mädchen ist überhaupt nicht tot, es schläft nur. Das sagt er dem Vater, der schier verzweifelt ist vor Angst um seine Tochter. - Auch das kann man oft erleben, dass Eltern ihre Kinder derart erziehen möchten, dass sie gefeit sind gegen alle Gefährdungen des Lebens, das heißt, die Kinder müssen gesund sein, sie müssen tüchtig sein, sie müssen klug sein, sie müssen fleißig sein, - bis sie ersticken an all der Fürsorge. Am Ende kann das Kind, die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus, wirklich nicht mehr leben.

MICHAEL ALBUS: Meine Großmutter im Schwarzwald hat oft gesagt: »Vor lauter Lieb' verreckt man schier.«

EUGEN DREWERMANN: So ist das im Volksmund auch: »Pastors Kinder, Lehrers Vieh gedeihen selten oder nie.« Das kommt wohl auf dasselbe hinaus.

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LernCoaching lernen kann man z.B. > hier.

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